Judith lief über den Firmenparkplatz. Sie musste sich ein eigenes Auto zulegen, und zwar schnell. Die Breimeier OHG lag weit außerhalb und die Busverbindungen waren schlichtweg eine Katastrophe. Bachhausen war eben ein Nest, aber das hatte sie ja gewusst, bevor sie hierher zurückgekehrt war. Am Wochenende würde sie nach einem neuen Wagen schauen. Ein kleiner, sparsamer würde ihr völlig genügen. Judith ging vorbei an der Breimeier-Firmenwagenflotte, die fast ausschließlich aus BMW bestand. Größere und kleinere, je nach Hierarchieebene des Mitarbeiters. Nur der Senior fuhr einen Mercedes und Breimeier Junior einen englischen Sportwagen. Wie es sich für einen Lebemann gehört.
Und ein Lebemann war Breimeier Junior. Das hatte sich schon im ganzen Dorf rumgesprochen, es gab sogar Leute, die hatten Angst um ihren Job, seit Sunny das Sagen hatte in der Firma. Der Alte war zwar ein Patriarch und erwartete unbedingten Gehorsam. Dafür fühlten sich die Leute aber auch sicher bei ihm. Die Firma lief, der Umsatz stimmte, die Jobs waren sicher. Mit Sunny hatte sich etwas verändert. Ob die Geschäfte tatsächlich schlechter gingen, wusste nur ein erlauchter Kreis. Trotzdem war die ganze Belegschaft verunsichert. Sie fragten sich, wie jemand die Firma leiten wollte, der nur selten anwesend war. Sunny verbrachte seine Zeit lieber im Jetset, urlaubte an der Cote d’Azur oder auf Marbella – immer umgeben von schönen Frauen und reichen Freunden, die wie er das nötige Kleingeld hatten, um aus jedem Tag ein Fest zu machen. Ab und an, wahrscheinlich, weil der Vater es anordnete, saß Sunny Breimeier in seinem Büro in Bachhausen und beschäftigte sich mit Mineralwasser und Aquapura. In der Firma raunte man, er plane einen großen Coup, wolle eine ganz neue Idee umsetzen – wohl um dem Vater zu imponieren. Heute war so ein Tag. Sunny saß in seinem Büro und Judith hatte in einer Stunde einen Termin mit ihm.
Ganz aufgeregt war Vera gestern ins Labor gekommen. “Der Junior will Dich morgen sehen”, hatte sie gesagt und dabei vielsagend mit den Augen gezwinkert. “Es geht um ein neues Produkt, glaube ich. Er sagte, er brauche eine erfahrene und fähige Chemikerin. Eine wie Dich.” Judith hatte Vera nur fragend angeschaut, aber nichts gesagt. Sie war zwar erfahren, aber ganz bestimmt nicht in kosmetischer Chemie. Da waren Vera und die Kollegen eindeutig im Vorteil. Warum wollte Breimeier ausgerechnet mit ihr sprechen? Vielleicht ging es ja um ganz andere Dinge und Vera hatte sich in ihrer Fantasie wieder etwas zusammengereimt. Das hatte sie schon während ihrer Studentenzeit gerne getan. Fakten blendete sie aus. Sie erzählte die Dinge einfach so, wie sie sie gerne hätte. In der Hoffnung, dass sie dann auch so passierten.
Auch in ihrer Verehrung für die Breimeiers ließ sich Vera nicht beirren. Eine tolle Familie sei das, betonte sie immer wieder, die gemäß moralischer Werte lebe, charakterlich gefestigt sei und immer besorgt um das Wohlergeben der Mitarbeiter. Dabei wusste ganz Bachhausen, dass der Alte es mit der Treue nicht ganz so genau nahm und auch bei seinen Geschäften manchmal einen Abstecher ins Illegale machte. Nachweisen hatte man ihm bislang nie etwas gekonnt, aber die Gerüchte hielten sich hartnäckig.
“Warum will er mit mir sprechen? Und nicht mit Dir?”, hatte Judith ganz unverfroren gefragt. “Du kennst Dich doch mit kosmetischen Produkten viel besser aus.” “Keine Ahnung”, hatte Vera geantwortet. “Vielleicht gefällst Du ihm besser.” Sie lachte. “Er hat sich schon mehrfach über Deine gute Figur ausgelassen.” “Na dann”, hatte Judith kopfschüttelnd gesagt und sich wieder ihrem Mikroskop zugewandt.
“Nick Wanninger wird bei dem Treffen auch dabei sein.” Vera hatte nicht locker gelassen. “Und?”, hatte Judith gefragt. “Mann Judith!” Vera hatte vorwurfsvoll geklungen. “Wanninger ist der Marketingchef und ein Liebling vom Alten. Wenn der dabei ist, dann ist es wirklich wichtig.” Und dann hatte Vera mit sehnsuchtsvollen Augen an die Decke geschaut. “Er ist ein wirklich umwerfender Mann. Ich beneide Dich!”
Herzschmerz hautnah, Folge 4, ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.
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