Lisa atmete schwer. Es war lange her, dass sie gejoggt war. In Berlin war es nicht so einfach, eine geeignete Strecke zu finden, wenn man nicht direkt durch den Straßenverkehr laufen wollte. Aber hier in der norwegischen Natur gab es nichts Herrlicheres als die Turnschuhe anzuziehen und loszurennen. Gleich hinter dem Haus war sie rechts in den Waldweg eingebogen – genau wie früher, wenn sie mit Nikolai ihre tägliche Runde gedreht hatte.
Sein Bild vor ihrem inneren Auge war mittlerweile verblasst. Sein Lachen, sein Blick, das süße Grübchen in der linken Wange – in ihrer Vorstellung war das alles nur noch schemenhaft vorhanden. Sie hatte ihn nicht mehr sehen wollen, nachdem der Brief angekommen war. Lisa hatte ihn einmal noch angerufen, in der Hoffnung auf eine Erklärung. Aber er hatte sich nur gewunden, wollte mit der Wahrheit einfach nicht herausrücken. Als sie aufgelegt hatten, war es Lisa, als würde ihr Herz nie mehr heilen.
Irgendwann später hatte Lisa dann erfahren, dass Nikolai diese Italienerin geheiratet hatte. Eine schöne, dunkelhaarige Frau angeblich mit feurigen Augen. Gesehen hatte sie die beiden nie, sie war ja nicht mehr nach Steinbek zurückgekehrt. Ihr Diplom als Meeresbiologin hatte Lisa in die unterste Schublade ihres Schreibtisches verbannt und ihre Wut und Trauer in politischer Aktivität ausgelebt. Zwei Jahre lang hatte sie gegen alles und jedes demonstriert, hatte keinen Protest ausgelassen. In Berlin gab es dafür ja genügend Gelegenheit. Es hatte ihr Spaß gemacht, sich im politischen Milieu zu bewegen. Ihr Leben wurde erst ruhiger als sie eine Redakteursstelle beim Ozean-Magazin angenommen hatte, einer Zeitschrift für Biologen und Meeres-Freaks. Es folgte ein rasanter Aufstieg, ein Jahr später war sie Chefredakteurin. Aber Nikolai hatte sie trotzdem nie vergessen.
Auch dann nicht, als Brad auftauchte. Wie so oft, hatte Trixi ihre Hände im Spiel gehabt. Ihre verrückte Schwester, die nie genug Trubel um sich haben konnte, hatte als Maskenbildnerin in Babelsberg angeheuert. “Weißt Du, Schwesterherz”, hatte sie gesagt, “einen Filmstar als Freund, das würde mir gefallen. Jeden Tag Champagner und Blitzlichtgewitter, die schönsten Kleider und die teuersten Hotels.” Trixi wollte hoch hinaus und es war immer klar gewesen, dass sie das aus eigener Kraft nicht schaffen würde. Sie hatte zu wenig Talent und zu wenig Durchhaltevermögen. Die Schule hatte sie mit Ach und Krach hinter sich gebracht mit einem miserablen Abschluss und kaum vorzeigbarem Wissen. Kosmetikerin war sie geworden. Ein Beruf, der zu ihr passte, wie Lisa fand. Und als sie dann in Babelsberg untergekommen war, schien ihr Traum von der Highsociety in greifbare Nähe gerückt.
Brad Pott war der Erste, der in ihrer Maske gesessen hatte. Gleich ein Superstar – Trixi war völlig aus dem Häuschen gewesen und hatte Lisa auf Knien gebeten, vorbeizukommen und ihn um ein Autogramm zu bitten. “Das ist die Gelegenheit, so einen Mann live zu sehen”, hatte sie gesagt. “Die kommt so schnell nicht wieder, das kann ich Dir sagen.” Lisa hatte sich breit schlagen lassen und die Sache hatte ihren Lauf genommen. Brad hatte sofort Feuer gefangen, sich offenbar Hals über Kopf in die unscheinbare, kleine, gedankenverlorene Aktivistin verliebt. Lisa hatte es nicht glauben können. Plötzlich war sie mit Rosen überschüttet, mit teuren Einladungen überhäuft worden. Und am Anfang fand sie es lustig, jedes Restaurant über den Hinterausgang zu verlassen und nur einkaufen zu können, wenn ein Geschäft für andere Kunden geschlossen wurde. Dass aber solche Situationen die Normalität sein sollten, konnte sie nur schwer akzeptieren.
Lisa war am kleinen See angelangt. Sie hielt an, um ein wenig zu verschnaufen. Ein Schwanenpaar schwamm übers Wasser, ein idyllischer Anblick. Nie würde sie so vertraut sein mit Brad. Ihr war völlig bewusst, dass er sie mehr liebte als sie ihn, was ohnehin schon seltsam genug war. Was wollte ein Mann wie Brad mit einer Frau wie ihr? Er drehte mit den schönsten Frauen der Welt: Julia Roberts, Angelina Jolie . . . Und doch schien er nur Augen für sie zu haben.
Sie selbst versuchte, die Gedanken an Nikolai zu verdrängen. Doch das gelang ihr nicht. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte. Nach so vielen Jahren vermisste sie ihn noch immer schmerzlich. Sie hatten sich so geliebt, waren für einander bestimmt gewesen. Würde die Frage nach dem Warum jemals beantwortet werden?
Lisa ging zum Haus zurück. Ein Wagen stand auf dem Kiesweg, ein großer grüner Landrover, wie ihn eigentlich nur Gutsbesitzer fuhren. Sie klingelte und ihr Vater öffnete. “Lisa! Schön, dass Du da bist”, sagte er strahlend. “Komm, wir haben Besuch.” Als Lisa das Wohnzimmer betrat, glaubte sie in Ohnmacht zu fallen.
Im Fjord der Liebe, Folge 5; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.
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