Olivenzweige, Folge 6

Eingetragen bei: Olivenzweige | 2

Ui, ich glaube, Hèlene hat sich ein bisschen zuviel zugemutet. Hoffen wir mal, dass nichts Ernstes dahinter steckt.

Sie war im Garten gewesen und hatte mit ihrem Bruder geschimpft. Louise, "Beneath", Some rights reserved, Quelle: www.piqs.de
Sie war im Garten gewesen und hatte mit ihrem Bruder geschimpft.
Louise, “Beneath”, Some rights reserved , Quelle: www.piqs.de

Yves hatte es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Ein Gläschen Bordeaux stand vor ihm, das Rot des Weines schimmerte im gedämpften Licht der Stehlampe. Wie so oft lief im Fernsehen eine dieser blöden Ratespielsendungen. Yves mochte sie nicht, aber im Moment konnte er die Ruhe im Haus nicht ertragen, er brauchte eine Geräuschkulisse um sich und wenn es nur die Stimmen der dümmlich antwortenden Kandidaten waren.

Er griff zu dem dicken Wälzer, der auf dem Tischchen neben dem Sofa lag. Es war ein Buch über Karl, den Großen, ein 600-Seiten-Schmöker, den er sich vor kurzem gekauft hatte. Yves las gerne. Er liebte es, sich den Geschichten hinzugeben, in ihnen zu versinken und alles um sich herum zu vergessen. Ohne diese Flucht aus der Realität könnte er nicht überleben. Ohne diese Ablenkung drohten die Gedanken an Hèlene ihn aufzufressen.

Er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt, gleich in der ersten Sekunde, in der er sie gesehen hatte. Sie war im Garten gewesen und hatte mit ihrem Bruder geschimpft. Lautstark wie es ihre Art war. Yves hatte verstohlen zwischen den Büschen durchgeschaut und die beiden Geschwister beobachtet. Sie waren so unterschiedlich die beiden, das war ihm sofort aufgefallen. Die Schwester war sehr temperamentvoll, der Bruder hingegen schien eher zu jenen zu gehören, die das Leben so nahmen wie es eben kam. Es war einer der seltenen Tage gewesen, an denen Hèlene ihr Haar offen getragen hatte. Die dunkle Mähne hatte im Sonnenlicht geglänzt, dass es eine Pracht war. Als sie sich plötzlich umgedreht hatte und auf die Hecke zwischen den beiden Grundstücken zugegangen war, hatte sich Yves ertappt gefühlt. “Wer beobachtet uns denn da durch die Büsche?”, hatte Hèlene schelmisch gefragt und Yves war rot geworden.

“Ich bin Yves LeGrand”, hatte er gestammelt. “Ich wohne jetzt hier.”
“Oh, das ist nett. Freut mich, Sie kennenzulernen.” Über die Hecke hinweg hatte sie ihm die Hand hingestreckt. “Ich bin Hèlene Cariol”, hatte sie gesagt und sich zu ihrem Bruder umgedreht. “Und das ist mein Bruder Gaston.”
“Sehr erfreut.” Ihre Hände hatten sich geschüttelt.
“Kommen Sie doch rüber, Monsieur LeGrand. Wir trinken gerade Kaffee.”
“Oh, nein, ich glaube . . . ich möchte nicht stören.”
“Ach, was. Sie stören doch nicht. Meinen Sie etwa unseren kleinen Disput? Den dürfen Sie nicht ernst nehmen. Gaston und ich streiten den ganzen Tag.” Hèlene hatte herzlich gelacht und wenn es nicht schon um Yves geschehen gewesen wäre – spätestens dann wäre es passiert.

Yves schlug das Buch auf. Seine Hand wanderte zu dem kleinen Tischchen. Ohne hinzusehen, tastete er nach seiner Brille. “Komisch”, sagte er zu sich selbst. “Wo hab ich sie denn nur hingelegt?” Yves sah sich um. Er stand auf und ging in die Küche. Ohne seine Brille war er hilflos. Obwohl er erst 38 Jahre alt war, hatte ihn die Altersweitsichtigkeit fest im Griff. Aber auch auf dem Küchentisch und auf der Arbeitsplatte fand er die Brille nicht.

“Wahrscheinlich hab ich sie drüben liegen gelassen”, dachte er und nahm den Schlüssel vom Haken. Zu blöd. Wahrscheinlich musste er heute Abend ohne Brille auskommen, Hèlene würde sicherlich schon schlafen. Natürlich würde er sie nicht wecken, sie brauchte ihren Schlaf. In letzter Zeit kam sie ihm oft schwach und ausgelaugt vor. Er half ihr, wo er konnte und dennoch schien sie die Ernte kaum mehr zu schaffen.

Yves klopfte leise an die Haustüre. Drinnen brannte Licht, aber keiner öffnete. Yves trat ein, er wusste, dass Hèlene die Tür nie abschloss. Sie nannte es Gottvertrauen, er nannte es Leichtsinn.
“Hèlene?”, rief er leise. “Bist Du noch wach?”
Er schloss die Tür hinter sich und lauschte. Nichts. Noch einmal rief er. “Hèlene?” Wieder keine Antwort.
Yves ging in die Küche, wo die Terrassentür offen stand. “Hèlene?”, rief Yves ein weiteres Mal und ging in den Garten hinaus.

Hier geht’s zur Folge 7 von “Olivenzweige”

Olivenzweige, Folge 6; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.

2 Antworten

  1. Ja, spannend wie immer. Bald , bald, geht es weiter ;)

    Sue

  2. Na, da bin ich ja gerade richtig online. Endlich geht es weiter!. Aber wieder treibst Du die Spannung hoch und dann? Ist Schluß! Fortsetzung folgt. Stöhn.
    LG Bea

Hinterlasse einen Kommentar