Der Platz vor dem Schuppen war übervoll. Die Menschen drängten sich unter den Bäumen, denn obwohl es schon Oktober und noch früh am Morgen war, stach die Sonne unerbittlich vom Himmel. Hèlene und Yves bahnten sich einen Weg durch die Menge und stellten sich auf die beiden umgedrehten Erntekisten, die schon bereit standen. Hèlene half es nicht viel, sie konnte trotzdem kaum über die vielen Köpfe hinwegsehen.
“Was ist denn dieses Jahr los?”, raunte sie Yves zu. “So viele Freiwillige hatte wir doch noch nie.”
“Ja, das stimmt”, flüsterte Yves. “Und ganz da hinten, sieh nur, das ist doch der alte Horace. Was will der denn hier?”
“Oje”, sagte Hèlene. “Das verheißt nichts Gutes. Wo der sich rumtreibt, da gibt’s nur Ärger.”
Hèlene hob die Hand. Die Menge beruhigte sich und wurde leiser. Nur vereinzelte Stimmen waren noch zu hören. “Liebe Freunde”, begann Hèlene, “ich freue mich sehr, dass dieses Jahr so viele von Euch gekommen sind. Ich weiß das sehr zu schätzen, schließlich habt Ihr alle selbst genug zu tun. Deshalb will ich schnell zur Sache kommen. Wir fangen nächsten Montag an, pünktlich um sechs Uhr morgens. Ihr wisst selbst, wie heiß die Tage selbst im Oktober noch sein können.”
Die Umstehenden nickten. Yves sah Hèlene bewundernd an. Sie stellte sich einfach vor all diese Menschen und hielt sie wie eine Dompteurin in Schach. Die meisten von ihnen waren froh, um diese kleine Nebenbeschäftigung, die ihr schmales Portemonnaie ein wenig füllte. Aber es gab auch andere, wie Horace, die nur kamen, um einer erfolgreichen jungen Frau das Leben schwer zu machen. Was sie antrieb war Neid, nichts als Neid.
“Bezahlst Du uns dieses Jahr eigentlich wieder so schlecht?” Es ging schon los, Horace verspritzte sein Gift.
“Horace”, sagte Hèlene und schenkte dem Alten ihr freundlichstes Lächeln. “Schön, Dich zu sehen. Du weißt genau, dass meine Bezahlung außerordentlich gut ist. Auf den Gütern in anderen Regionen wird weitaus weniger bezahlt. Ich freue mich, dass Du bei der Ernte dabei bist. Wenn Du allerdings findest, dass Du hier zu wenig verdienst, dann können wir uns Deine Hilfe nicht leisten.”
Die Menge lachte. “Ja, genau Horace”, rief einer. “Verpiss Dich einfach, wenn’s Dir nicht passt.”
“Wenn Ihr so blöd seid, für einen Hungerlohn zu arbeiten! Die Cariols schwimmen im Geld, machen jedes Jahr einen fetten Reibach mir ihren Oliven, davon könnten sie ihren Helfern ruhig etwas abgeben.”
“Ach, Horace, halt die Klappe”, rief nun eine Frau aus der Menge. “Du bist ein alter Neidhammel, das ist alles.”
Yves nickte Hèlene zu. Es wurde Zeit, dass sie wieder das Wort ergriff, bevor Horace die Szenerie an sich reißen konnte.
“Leute!”, sagte sie. “Die Löhne bei mir sind allgemein bekannt. Ich denke, darüber müssen wir nicht mehr reden. Ich danke Euch sehr, dass Ihr gekommen seid. Ohne Euch würden wir die Ernte nicht schaffen.”
“Ja”, rief jemand in der vorderen Reihe. “Mit so einem Nichtsnutz von Bruder würde ich auch nicht weit kommen.”
Hèlene überhörte den Einwurf und kramte in ihren Unterlagen. “Ich lege jetzt die Listen hier auf die Tische”, sagte sie. “Bitte tragt Euch ein, je nach Tageszeit und Sektion.”
Die Menge kam in Bewegung. Hèlene und Yves sahen zu wie die Leute langsam zu den Tischen wanderten. “Ich glaube, wir können uns auf einiges gefasst machen”, sagte Hèlene. “Das war sicherlich nicht das letzte Mal, dass Horace versucht, uns das Leben schwer zu machen.”
“Da könntest Du Recht haben”, sagte Yves. “Leider.”
Hier geht’s zur Folge 5 von “Olivenzweige”
Olivenzweige, Folge 4; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.
2 Antworten
bea
Ja, da bin ich auch Deiner Meinung! Schön, liebe Carola, das Du uns wieder einen schönen Groschenroman
schreibst. Ich bin schon wieder sehr gespannt!
LG Bea
sue
Hallo,
so aus dem Urlaub wieder zurück – habe ich jetzt alle 4 Folgen in einem Rutsch gelesen. Es geht ja wieder gut los;).
Einen schönen Sonntagabend wünscht
die etwas verkaterte Sue