Alain! Aha! Yves! Oho! Männer gibts’s offenbar genug in Hèlenes Leben. Wir dürfen gespannt sein. Zunächst aber muss sie sich mit Gaston rumärgern, ihrem nichtsnutzigen Bruder.
Die Küche war leer, als Hèlene am nächsten Morgen hinunter kam. Wie jeden Tag. Gaston stand nur widerwillig vor 9 Uhr auf, wenn überhaupt. Vielleicht ein, zwei Tage gab es im Jahr, in denen er es war, der das Frühstück machte.
Hèlene schaltete die Kaffeemaschine ein und deckte den Tisch. Sie hatte schlecht geschlafen und konnte sich nur schwer darauf konzentrieren, die richtigen Dinge aus dem Kühlschrank zu holen. Zu viel ging ihr in letzter Zeit im Kopf herum. Das Gut, der Laden, jetzt die Ernte, Yves mit seinen Erwartungen, all das forderte all ihre Aufmerksamkeit. Hilfe hatte sie keine, mit Gaston konnte sie leider nicht rechnen. Sie konnte von Glück reden, wenn er sie bei der Ernte nicht im Stich ließ wie letztes Jahr, als seine damalige Flamme Gabrielle ihn plötzlich im heißen Motorrad-Outfit zu einer Spritztour abgeholt hatte. Gaston hatte das Angebot als willkommene Abwechslung im Oliveneinerlei gesehen und war auf und davon gewesen. Die Spritztour hatte vier Tage gedauert, erst als der letzte Laster mit Oliven eingebracht war, war Gaston wieder aufgetaucht. Gabrielle war längst Vergangenheit, aber Hèlene hatte ihrem Bruder bis heute nicht wirklich verziehen.
“Guten Morgen, Schwesterherz!” Hèlene nahm gerade einen Schluck aus der Tasse, als Gaston in die Küche kam.
“Oh”, sagte sie. “Gut, dass Du schon auf bist. Ich kann heute jede helfende Hand gebrauchen.”
“Ach ja?”
“Ja, wir müssen heute die Erntehelfer einteilen. Du kennst es ja, es ist eine sehr unerfreuliche Aufgabe. Aber in spätestens einer Woche sind die Früchte reif und alles sollte organisiert sein. Wäre nett, wenn Du heute eine Sektion übernehmen könntest.”
“Ausgerechnet heute?”, fragte Gaston und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Hèlene sah ihn alarmiert an. “Heute hatte ich eigentlich etwas anderes vor”, sagte er.
“Und was, wenn ich fragen darf?” Hèlene wurde unwirsch.
“Heute findet die letzte Surfparade vor der Winterpause statt. Da muss ich hin. Warst Du schon draußen? Es ist herrlicher Wind. Optimale Bedingungen. Die Erntehelfer können doch auch bis morgen warten, oder?”
“Glaubst Du wirklich, dass ich 50 Leute nach Hause schicke, nur weil Du surfen willst?” Hèlene schrie jetzt, sie war außer sich. “Wie egoistisch bist Du eigentlich? Willst Du mich schon wieder sitzen lassen? Wie im letzten Jahr?”
“Liebe Schwester”, sagte Gaston herablassend und brachte Hèlene damit noch mehr auf die Palme. “Du bist es doch, die das Gut unbedingt behalten will. Ich habe Dir schon hundert Mal gesagt: Wir verkaufen das Gut und machen uns von der Kohle ein schönes Leben. Keine Ernte, keine Erntehelfer, kein Laden. Nur dolce vita. Keine Ahnung, warum Du Dir den ganzen Stress machst.”
Hèlene war aufgestanden und in der Küche auf- und abgegangen. Jetzt blieb sie stehen und sah Gaston ungläubig an. “Du widerst mich an!”, sagte sie, drehte sich um und ging zur Tür.
Beinahe wäre sie mit Yves zusammengestoßen, der just in dem Moment den Raum betrat.
“Uii, was ist denn hier los?”, fragte er. “Dicke Luft?”
“Gaston will mich mal wieder hängen lassen”, sagte Hèlene wütend und fügte verächtlich hinzu. “Wegen der Surfparade.”
“Er ist jung”, sagte Yves. “Ist doch klar, dass er keine Lust auf die Ernte hat.”
“Siehst Du!”, sagte Gaston triumphierend.
“Was heißt hier jung?”, fauchte Hèlene. “Ich bin auch jung, die fünf Jahre zwischen uns sind da nicht der Rede wert. Du brauchst ihn gar nicht in Schutz zu nehmen, Yves. Mein Bruder ist ein Mann ohne Skrupel und ohne Gewissen, das zeigt sich heute wieder ganz deutlich.” Sie ging durch die Tür und drehte sich noch einmal um. “Ich geht jetzt raus zu den Erntehelfern. Die warten bestimmt schon. Kommst Du mit, Yves?”
“Natürlich!”, sagte Yves und wandte sich zu Gaston. “Und Du kommst auch mit. Los, beweg Deinen Hintern. Ich werde nicht zulassen, dass Du Hèlene die ganze Ernte allein machen lässt. Sonst wirst Du mich kennenlernen.”
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Olivenzweige, Folge 3; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.