Dieser Gaston ist wirklich unglaublich. Setzt immer noch einen drauf. Macht ein bisschen den Eindruck, als lebe er in einer anderen Welt. Aber Yves wird die Sache schon richten, glaubt Ihr nicht auch?
Als Yves das Krankenzimmer auf der Intensivstation betrat, war Hélène wach. Sie lächelte ihn an. “Hallo, Yves!”
“Hallo, Hélène! Wie geht es Dir heute?”
“Sie haben die Beruhigungsmittel reduziert, jetzt bin ich ein bisschen mehr bei mir.” Sie klopfte auf ihr Bett. “Komm, setz Dich zu mir!”
Er tat wie geheißen und nahm ihre Hand. Immer dünner wurde sie, immer knochiger.
“Hast Du Gaston gesprochen?”, fragte sie. “Er war noch nicht hier.”
“Er hat es nicht geschafft. Auf dem Gut ist so viel zu tun.” Hélène sah ihn an. Yves wusste, was sie gleich sagen würde: Hör auf zu lügen! Und ja, Yves fand, sie hatte Recht. Warum sollte er ihr die Wahrheit verschweigen? Wer wusste schon, wie lange sich ihr Zustand noch hielt und sie bei Bewusstsein war? Vielleicht war es die letzte Gelegenheit, sie über ihre Familie aufzuklären.
“Gaston hat sich testen lassen”, sagte er unvermittelt.
“Und? Gibt es schon ein Ergebnis?”
“Ja”, sagte Yves leise. Er blickte zur Zimmertür als hoffe er, ihm würde jemand zu Hilfe kommen. Hélène schaute ihn an. Ihre Augen verrieten es: Sie wusste, dass er keine guten Nachrichten hatte.
“Sein Erbgut passt überhaupt nicht.”
“Überhaupt nicht? Was heißt das?” Jetzt blickte sie erschrocken.
“Seine DNA und die Deine sind völlig verschieden. Es ist nicht nur ausgeschlossen, dass er Dir eine Niere spendet.”
“Sondern?”
“Er kann auf keinen Fall Dein Bruder sein!”
Hélène sah ihn fassungslos an, dann schlug sich die Hand vor den Mund.
“Nein”, rief sie. “Das kann doch nicht sein.”
“Ein Irrtum ist ausgeschlossen.”
“Ich verstehe nicht . . .”
“Hat Deine Mutter nie irgendetwas erzählt? Habt Ihr nie darüber gesprochen, dass einer von Euch adoptiert ist? Oder vielleicht Ihr beide?”
“Nein.” Hélène starrte an die Decke, sie dachte nach. “Ich war mir sicher, dass wir eine ganz normale Familie sind”, sagte sie.
“Und Euer Vater?”
“Vater? Welcher Vater?”
“Ihr müsst doch einen Vater haben”, antwortete Yves irritiert. Konnte es sein, dass Gaston und Hélène ihre Mutter nie nach dem Vater gefragt hatten?
“Den kennen wir nicht. Ehrlich gesagt, war er nie ein Thema für uns. Wir haben sehr gut ohne ihn gelebt.” Hélène weinte. Kleine Tränen kullerten über ihre Wangen. Das war einfach zu viel für sie. Erst die Krankheit und jetzt diese schreckliche Offenbarung. Yves tat sie so unendlich leid, aber er hielt sich zurück. Er drückte nur ihre Hand.
“Gibt es irgendjemanden, der wissen könnte, was damals passiert ist? Eine Freundin Deiner Mutter aus früheren Tagen vielleicht?”
“Auf die Schnelle fällt mir niemand ein. Wir waren meistens unter uns. Außer mit den Leuten im Dorf hatte Maman mit niemandem Kontakt.”
“War da niemand darunter, mit dem sie sich gut verstand, mit dem sie befreundet war? Ihr wohnt doch schon lange hier, da lernt man sich doch kennen?”
“Ach, Yves”, sagte Hélène müde. “Was Du alles wissen willst.”
Yves streichelte ihre Hand. “Aber es geht doch um Dich, Hélène”, sagte er leise. “Es geht um Dein Leben.” Aber Hélène war bereits wieder eingeschlafen. Yves legte ihre Hand auf die Bettdecke und stand auf. Wenn er nicht handelte, wurde es eng.
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Olivenzweige, Folge 20; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.
2 Antworten
bea
Machst uns wieder vollkommen fertig vor Spannung! LG Bea
Sue
Ja, tu was. <ich halte es nicht mehr aus. Sue