Das ist ja eine böse Überraschung. Gaston ist nicht der Bruder von Hélène. Was mag da wohl passiert sein vor 30 Jahren? Ob Yves das jemals herausfinden wird? Ob es dennoch irgendwo einen Spender für Hèlène gibt? Fragen über Fragen . . .
Yves starrte in die Ferne. Es war ein herrlicher Herbsttag, das Meer lag blau am Horizont, die Sonne strahlte vom Himmel. Er fühlte sich schrecklich. Die Welt war so schön und das Schicksal konnte so grausam sein. Wie sollte Hélène geholfen werden? Was würde aus dem Gut werden? Yves war sich sicher, dass es zu spät war. Er konnte nichts und niemanden mehr retten. Hélène nicht, das Gut nicht und auch nicht seine Liebe.
Er saß auf der kleinen Bank, die Hélènes Mutter aufgestellt hatte auf dem Felsen, von dem aus man einen so wunderbaren Blick auf die Landschaft und im Hintergrund das Meer hatte. Was mochte damals passiert sein? Warum hatte Manon zwei Kinder aufgezogen, die keine Geschwister waren? Ja, nicht einmal Halbgeschwister waren sie, auch das hatte der Laborbefund ausgeschlossen.
Bislang hatte Yves mit niemandem über die schreckliche Neuigkeit gesprochen und er würde versuchen, sie solange wie möglich vor Hélène geheim zu halten. Vielleicht konnte er in der Zwischenzeit die wahren Familienverhältnisse aufklären und Hélène damit zumindest ein wenig Aufregung ersparen. Er wollte sie schützen, er musste sie schützen. Erst jetzt, wo sie so sehr krank war, spürte er, wie sehr er sie liebte. Und auch, wenn diese Liebe keine Zukunft haben sollte, er würde Hélène helfen.
Natürlich hatte Docteur Leroc Hélène längst auf die Transplantationsliste setzen lassen. Wie viele Menschen brauchten eine neue Niere? Und wie viele waren bereit, eine zu spenden? Und wie viele von diesen Menschen passten erbguttechnisch zu Hélène? Docteur Leroc hatte ihm die Wahrscheinlichkeiten genannt. Sie waren so gering, dass Yves die Zahlen nicht einmal in Gedanken mehr wiederholen mochte. Es blieb nur eines: Sie brauchten ein Wunder.
Yves war nie auf der Suche nach einer Frau gewesen. Irgendwie waren die Frauen immer auf der Suche nach ihm gewesen. Während des Studium, ja, schon während der Schulzeit war er stets der Hahn im Korb gewesen, hätte an jedem Finger zehn haben können. Ihm war immer bewusst, dass dies weniger an seinem Aussehen oder seinem Charme lag, sondern vor allem am Geld seines Vaters. Das Vermögen erlaubte es ihm, den Mädchen Dinge zu bieten, an die andere Jungs in seinem Alter nicht zu denken wagten. Reisen nach St. Moritz oder auf die Seychellen, Schmuck, Kleider – all das nutzlose Zeug, auf das Frauen standen. Yves hatte dies ausgenutzt, zur schnellen Befriedigung seiner Lust und seines Egos. Wirklich gebunden hatte er sich nie gefühlt, sehr zum Leidwesen seines Vaters. Der wünschte sich Enkelkinder, Erben für seinen Verlag. Wahrscheinlich hoffte er noch heute, dass dieser Traum Wirklichkeit werden würde.
Mit Hélène war es etwas ganz anderes. Noch nie zuvor hatte er eine Frau wie sie kennengelernt. Bodenständig, zupackend, bestimmt und bescheiden. Eine umwerfende Mischung, wie er fand. Sie lebte für ihre Olivenbäume, das Erbe, das ihr die Mutter hinterlassen hatte. Er wusste nicht einmal, ob es in ihrem Leben einen Mann gab oder mal einen gegeben hatte.
“Ach hier bist Du?” Yves drehte sich um und sah wie Gaston über das Feld gelaufen kam. “Ich hab Dich überall gesucht.”
“Du suchst mich? Das ist ja etwas völlig Neues.” Yves blieb auf der Bank sitzen.
“Ja. Hör zu , Yves! Ich habe tatsächlich einen Käufer für das Gut gefunden. Besser gesagt, eine Käuferin.” Gaston setzte sich neben ihn.
“Gratuliere”, sagte Yves ironisch.
“Madame Marie kommt morgen vorbei und will sich das Gelände und die Gebäude genau anschauen. Könntest Du bitte dafür sorgen, dass alles tiptop ist? Die Dame scheint mir sehr exakt zu sein.”
“Bitte?” Yves stand auf. “Was soll ich tun?”
“Mensch, Yves! Nun stell Dich nicht an. Die ganze Zeit mischst Du Dich in alles ein, dann kannst Du doch dafür sorgen, dass morgen alles in Ordnung ist, oder?”
Yves schnappte nach Luft. Soviel Unverfrorenheit war ihm selten untergekommen.
“Weißt Du was, Gaston? Mach doch was Du willst!”, sagte er und ließ Hélènes Bruder einfach stehen.
Hier geht’s zur Folge 20 von “Olivenzweige”
Olivenzweige, Folge 19; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.
2 Antworten
bea
Das finde ich aber auch. LG Bea
Sue
Richtig so, eine Frechheit von Gaston zu fragen und das auch zu erwarten, allein schon der Gedanke…. Sue