Oh, die Lage spitzt sich zu, scheint mir. Horace ist wirklich ein Fuchs. Die Idee, mit Gaston gemeinsame Sache zu machen ist gut. Allerdings nicht für Yves. Der hat jetzt eine Sorge mehr.
“Es tut mir Leid, dass ich keine besseren Nachrichten für Sie habe, Monsieur LeGrand.” Docteur Leroc stand von seinem Schreibtischstuhl auf und streckte Yves die Hand hin. In seinem Blick lag zum ersten Mal echtes Bedauern.
Yves erhob sich ebenfalls. Seine Beine waren bleischwer. Fast zwei Wochen waren seit Hélènes Zusammenbruch vergangen und ihr Zustand verschlechterte sich. Sie hing an der Dialyse, jeden zweiten oder dritten Tag wurde ihr Blut außerhalb des Körpers gereinigt und sie war zusehends geschwächt. Yves wusste nicht, wie viel sie von ihrer Lage mitbekam, sie schlief meistens. Docteur Leroc hatte ihn vorsichtig darauf vorbereitet, dass Hélène ohne neue Niere wohl keine Zukunft haben würde. Er solle sich auf die Suche nach einem geeigneten Spender machen. Sofort hatte Yves sich selbst angeboten und die Schwester hatte ihm Blut abgenommen. Aber er hatte keine große Hoffnung, dass ausgerechnet er zu Hélènes DNA passte.
Blieb Gaston. Beim Verlassen des Krankenhauses wurde es Yves klar. Gaston war der einzige nahe Verwandte, den Hélène noch hatte. Dass Gaston so viel Nächstenliebe aufbrachte, seiner Schwester eine Niere zu spenden, hielt Yves für nahezu aussichtslos. Aber er würde es versuchen, gleich heute Abend würde er mit Gaston sprechen und ihn davon überzeugen, sich testen zu lassen. Egal, wie viel Energie es ihn kosten würde.
Yves stieg in sein Auto und fuhr zurück zum Gut. Die Ernte war fast zu Ende, alle Oliven gepflückt, jetzt kam der Zahltag. Yves hatte die Bücher durchgesehen und die Kontoauszüge geprüft. Es stand nicht gut um das kleine Unternehmen. Yves war klar, warum Hélène Tag und Nacht arbeitete, warum sie zusätzlich zur Landwirtschaft den kleinen Laden betrieb. Sie hatte es schlichtweg nötig. Vielleicht wäre es doch das Beste, den Olivenhain zu verkaufen. Sobald Hélène wieder gesund war, würde er mit ihr sprechen.
Doch jetzt musste er die Erntehelfer bezahlen. Dank Horace verdienten sie zwei Euro mehr die Stunde, als Hélène kalkuliert hatte. Eine fatale Situation, wie Yves sah. Er hatte alles versucht, Gaston ins Gebet genommen, an Horace appelliert, aber diese beiden Idioten hatten ihren Spaß daran, ihn zu quälen. Gaston aus Ignoranz und Horace aus Bösartigkeit. Im Gegensatz zu Horace schadete Gaston auch sich selbst, aber damit wollte er sich nicht belasten. Er lebte in den Tag hinein als gäbe es kein Morgen.
Vielleicht ließen sich die Erntehelfer ja auf eine Zahlung in Raten ein. Wenn er ihnen den Lohn stückeln könnte, um jeden Monat einen Teil auszuzahlen – das wäre eventuell eine Lösung. Horace würde er nicht in die Verantwortung nehmen können, er handelte auf Gastons Anordnung. Yves schlug mit der Hand aufs Lenkrad. “Nein!”, rief er laut. “Ich darf nicht zulassen, dass in Hélènes Abwesenheit alles kaputt geht. Nein, ich muss das Gut retten und wenn ich….”
Gaston bremste abrupt und fuhr rechts ran. Natürlich! Dass er daran nicht viel früher gedacht hatte. Er würde seinen Vater bitten, ihm das Geld zu geben. Zwar war ihr Verhältnis seit Yves Abgang aus dem Verlag nicht das beste, aber wenn es um Geld ging, war sein alter Herr immer schon großzügig gewesen. Pah, Horace und Gaston konnten ihm den Buckel runter rutschen. Er würde ihnen ein Schnippchen schlagen. Yves kramte in der Manteltasche nach seinem Telefon. Es war halb drei. Prima, sagte sich Yves, eine sehr gute Zeit, da hat der alte Herr gerade sein Mittagschläfchen beendet.
“Frau Beinhold? Hallo, hier ist Yves. Ja, ich lebe noch. Ja, in der Provence, in einem schönen Häuschen. Ja natürlich, ja, sehr schön.” Yves beantwortete alle Fragen der Sekretärin höflich, obwohl er eigentlich so schnell wie möglich mit seinem Vater sprechen wollte. Saskia Beinhold war Deutsche und um die französische Sprache zu lernen, ließ sie keine Gelegenheit aus.
“Aber ach, was rede ich so viel”, sagte sie jetzt. “Sie möchten sicherlich mit Ihrem Herrn Papa sprechen, oder?”
“Ja. Ist er da?”
“Nein, tut mir leid. Im Moment ist er in den USA. Aber übermorgen erwarten wir ihn zurück. Möchten Sie dann nochmal anrufen, Yves? Er wird sich sicher sehr freuen, von Ihnen zu hören.”
“Ja, Frau Beinhold. Ich melde mich übermorgen nochmal. Auf Wiedersehen.”
“Bis bald, Yves.”
Mist, dachte Yves, ausgerechnet in den USA. Wenn sein Vater unter Jetlag litt, war er unerträglich. Da brauchte er mit seinem Anliegen gar nicht erst zu kommen. Er würde zwei Tage länger warten müssen.
Yves startete den Wagen. Er musste zum Gut, es gab jede Menge zu tun.
Hier geht’s zur Folge 16 von “Olivenzweige”
Olivenzweige, Folge 15; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.
Eine Antwort
bea
Lese heute wieder mal alles am Stück. Stöhn. Das ist ja vollkommen unerträglich, wie Du uns wieder mal auf die Folter spannst. Bitte erlöse uns endlich! Laß alles gut werden! LG Bea