Nierenversagen! Das ist ja eine furchtbare Diagnose! Wer denkt sich nur sowas aus? In einem Groschenroman haben solche Sachen ja eigentlich nichts zu suchen, oder? Aber Ihr wisst ja, je schrecklicher die Geschichten umso schöner ist das Happy End. Vielleicht . . .
Yves schlüpfte in den blauen Kittel, den die Schwester ihm hinhielt. Er schaute suchend durch die Glasscheibe in den großen Raum, in dem Hèlene lag. Intensivstation, fünf Betten nebeneinander, getrennt durch blaue Vorhänge, die im Notfall ruck zuck zur Seite geschoben waren. Überall Apparate, dauerndes lautes Piepsen, nur flüsternde menschliche Stimmen. Zwischen all dem musste irgendwo Hèlene sein. Hèlene, die immer so stark gewesen war, die nichts hatte umhauen können. Yves hatte sie bewundert für ihre Ausdauer, ihre Kraft und ihr Durchsetzungsvermögen. Und jetzt machte plötzlich ihr Körper nicht mehr mit. Er empfand eine große Ungerechtigkeit.
“Kommen Sie”, sagte die Schwester und führte ihn am Arm durch die sich lautlos öffnende Tür. “Da drüben liegt Madame Cariol.” Sie zeigte nach links, zum Bett an der Wand. “Gehen Sie ruhig, sie ist wach.”
“Danke”, sagte Yves und trat langsam an das Bett heran.
“Yves”, flüsterte Hèlene. “Wie schön, dass Du gekommen bist.”
Yves holte sich einen Stuhl heran und setzte sich. Sachte nahm er Hèlenes Hand, die auf der Bettdecke lag. “Wie geht es Dir?”, fragte er.
“Ach, ich fühle mich schlapp und müde.”
“Das wird schon wieder. Yves versuchte sie aufzumuntern, obwohl er selbst kaum wusste, wie es für Hèlene weitergehen sollte.
“Die Ärzte machen mir keine großen Hoffnungen”, sagte Hèlene und schloss die Augen. “Meine Nieren”, flüsterte sie noch und dann schlief sie schon wieder.
Yves sah hilfesuchend zu der Schwester, die Hèlenes Infusionsbeutel überprüfte. “Sie hat Beruhigungsmittel bekommen”, sagte sie. “Deshalb schläft sie viel. Machen Sie sich keine Sorgen, bei uns ist sie in den besten Händen.”
Yves sah auf Hèlenes Hand, ihre schlanken Finger und die gepflegten Nägel, denen die harte Arbeit nicht anzusehen war. Wie lange würden sie warten müssen, bis ihre Nieren wieder arbeiteten? Und was, wenn dies nie passieren würde? Wer könnte Hèlene eine Niere spenden? Er selbst vielleicht? Ihr nächster Verwandter war Gaston. Aber Yves bezweifelte, dass Hèlenes von Egoismus gesteuerter Bruder bereit sein würde, seiner Schwester ein Organ zu geben. Da müsste man ihm schon sehr viel Geld anbieten.
Yves zog den Stuhl näher ans Bett. Er blickte auf Hèlene, die schlief und ganz ruhig atmete. Eines war sicher: Sie würde nicht so schnell aufs Gut zurückkommen. Wenn sie überhaupt jemals wieder würde arbeiten können. Jemand musste sich um das Gut kümmern, um die Oliven, um die Ernte. Wer außer ihm sollte das tun? Yves fiel niemand ein. Er wusste nur, dass er schnell entscheiden musste, den Horace und seine Kumpane standen bereits in den Startlöchern. Wenn die alten Neidhammel erführen, dass das Cariol-Gut ohne Führung war, würden sie sofort ihre gierigen Griffel ausfahren und sich nehmen, was sie kriegen konnten. Yves schüttelte den Kopf. Nein, das durfte nicht geschehen. Er wusste, was zu tun war.
“Ich werde den Hain bewirtschaften, solange Du weg bist”, flüsterte Yves.
“Mhm”, murmelte Hèlene im Schlaf.
“Du musst Dir keine Gedanken machen, ich werde dafür sorgen, dass alles läuft. Du kannst Dich auf mich verlassen.” Yves legte Hèlenes Hand auf die Bettdecke, schob den Stuhl zurück und stand auf. Endlich hatte er eine Aufgabe.
Olivenzweige, Folge 10; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.
So weit, so gut,
Puh, ich hoffe alles geht gut.
Sue