So, jetzt ist es raus! Das ist also die Geschichte hinter der Geschichte. Der blaublütige Sohn darf nur eine Adlige freien und widersetzt sich nicht, weil er nicht aufs Familiengut verzichten will. Der Junge hat offenbar zu viel “Vom Wind verweht” gesehen. In dem alten Kultschinken sagte der alte Gerald O’Hara auch immer: “Nur das Land ist ewig. . . ”
“Lisa, Schatz, da bist Du ja endlich!” Ihre Mutter kam ihr auf dem Kiesweg entgegen und nahm sie in die Arme. “Wo warst Du? Wir haben uns die größten Sorgen gemacht!” Es war bereits Mitternacht und Lisa ließ sich bereitwillig ins Haus führen. Sie fühlte sich so schwach, so hilflos, so leer. Stunden war sie einfach nur durch die Gegend gelaufen, über Felder und Wiesen, durch Wälder und am Meer entlang. Das also war der Grund gewesen, warum Nicolai die Beziehung zu ihr abgebrochen hatte: Sie war nicht gut genug für ihn gewesen, weil sie kein blaues Blut hatte! Die Geschichte war so ungeheuerlich, dass Lisa sie selbst nicht glauben konnte. Das war ja wie in einem Groschenroman aus dem vorigen Jahrhundert.
“Was ist denn passiert?”, fragte ihre Mutter als sie im Haus waren.
“Nichts”, sagte Lisa. “Ich war spazieren.”
“Bis in die Nacht? Selbst wenn es hier im Norden nicht dunkel wird, ich sehe es ungern, wenn Du zu so später Stunde alleine durch die Wälder streifst.”
“Mama, ich bin erwachsen!”
“Trotzdem. Und jetzt komm her, setz Dich und erzähl mir, was los ist.”
Wie immer duldete Gitta keinen Widerspruch. Sie zog Lisa neben sich auf das Sofa, tätschelte ihre Hand und sah sie erwartungsfroh an.
Doch statt ein Wort zu sagen, brach Lisa in Tränen aus. Ein Weinkrampf schüttelte sie, getragen von Verzweiflung, Ungläubigkeit und Leere. Seit sie Nicolais Geschichte gehört hatte, empfand sie vor allem Leere. All die Jahre hatte die Trauer um die verlorene Liebe ihr Leben erfüllt, war sie der Sinn ihres Daseins gewesen. Umsonst! Nicolai war keine Sekunde davon Wert gewesen. Er hatte sie verraten und das war unverzeihlich.
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Gitta strich ihrer Tochter beruhigend über den Kopf. “Hast Du mit Nicolai gesprochen?”, fragte sie.
“Ja”, schluchzte Lisa.
“Hat er Deine Frage beantwortet?”
“Mhm.”
“Und?”
Lisa kannte ihre Mutter. Sie würde keine Ruhe geben, bevor sie nicht die ganze Wahrheit kennen würde. Also begann Lisa zu erzählen, zunächst noch stockend und von heißen Tränen unterbrochen, dann immer flüssiger. Und am Ende redete sie sich so in Rage, dass sie nichts mehr auf dem Sofa hielt und sie wie ein gehetztes Tier im Wohnzimmer auf und ab ging.
“Stell Dir das mal vor, Mama. Jetzt hat er diese dicke, unfreundliche Italienerin am Hals. Und das nur, weil sie adlig ist.”
“Ja, aber ich hab den Eindruck, er bereut seine Entscheidung mittlerweile.”
“Adlig!” Lisa hörte ihrer Mutter gar nicht zu. “So ein Quatsch!” Lisa schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, dann sah sie ihre Mutter an.
“Was hast Du eben gesagt?”
“Ich glaube, dass er seine Entscheidung bereut.”
“Wie kommst Du denn darauf?”
“Naja”, Gitta machte eine Pause. “Ich habe seine Blicke gesehen auf dem Tennisplatz.”
“Aha!”
“Und was Du von Eurem Treffen am alten Steg erzählst, lässt mich zum selben Schluss kommen.”
“Weißt Du was? Das ist mir wurscht. Ich bin fertig mit diesem Typen.”
“Ach, Kind! Jeder macht doch mal einen Fehler!”
“Mama”, Lisa setzte sich neben ihre Mutter. “Hier geht es nicht um einen Fehler. Hier geht es um Einstellungen und Werte. Mich zu verlassen, weil ich nicht adlig bin, das ist charakterlos und schwach. Was wäre denn passiert, wenn sein Vater ihn enterbt hätte?”
“Lisa, sei doch nicht so streng. Für Nicolai war immer klar, dass er einmal das Gut seiner Familie führt. Er ist hier in Norwegen ganz anders verwurzelt als Du in Berlin. Er hätte das alles nicht so leicht aufgeben können. Verstehst Du das denn nicht?”
“Nein. Das verstehe ich nicht. Ich weiß nur, dass es offenbar ein krasses Ungleichgewicht zwischen uns gegeben hat. Ich hätte alles für ihn aufgegeben, er war aber umgekehrt nicht bereit dazu. Im Gegenteil: Er lässt mich fallen. Wegen einer Nichtigkeit!”
Gitta sagte nichts mehr. Sie sah ihre Tochter nur mitleidig an. Wenn Lisa doch nur ein bisschen von der Leichtigkeit ihrer Schwester hätte. Trixi hätte in dieser Situation gelacht und sich einen neuen Freund gesucht. Mit einer guten Portion Oberflächlichkeit kam man einfach besser durchs Leben.
“Ich geh jetzt nach oben”, sagte Lisa.
“Schlaf gut, mein Schatz”, sagte Gitta. “Ach ja, übrigens, bevor ich’s vergesse. Michael hat angerufen.”
“Michael? Was will der denn? Ich habe Urlaub, da soll er mich gefälligst in Ruhe lassen.”
“Er sagte, es sei wichtig. Ruf ihn doch morgen an. Vielleicht gibt es ein Problem. Immerhin bist Du die Chefin.”
“Mach ich”, sagte Lisa und ging die Treppen hinauf. Michael!, dachte sie. Ihr nerviger Kollege. Was wollte der schon wieder?
Hier geht’s zur Folge 14 von “Im Fjord der Liebe”
Im Fjord der Liebe, Folge 13; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.
Eine Antwort
sue
HM ; MIchael, kann er nicht der neue Traumprinz sein???? Bin schon gespannt , wie es sich weiter entwickelt.
LG Sue