Mitzi verzichtete auf den Aufzug. Stufe um Stufe erklomm sie den vierten Stock. Sie ließ sich Zeit, um Max in seinem Büro aufzusuchen, ließ sich ganz von ihrem Gefühl leiten. Hätte sie ihren Kopf eingeschaltet, wäre sie sofort umgekehrt. Lange hatte sie überlegt, ob sie den Schritt überhaupt machen sollte. Wenn sie sich erst einmal auf ihn eingelassen haben würde, gäbe es kein Zurück mehr. Dann wäre sie verloren. Was also, wenn er ihre Gefühle nicht erwiderte? Wenn sie für ihrn höchstens eine Affäre sein konnte und er seine Verlobte heiraten würde?
Andererseits konnte sie nach dem Kuss im Aufzug nicht mehr zur Tagesordnung übergehen. Sie musste herausfinden, was er in ihr sah, welche Gefühle er für sie hegte. Sie würde es sich niemals verzeihen können, nicht zumindest mit ihm gesprochen zu haben.
Auf der vierten Etage angekommen, ging Mitzi den langen Gang auf die große Glastür zu, die in den Bürotrakt der Ludenhoffs führte. Eine ältere Dame kam heraus, die sie – wie Mitzi fand – unverschämt musterte.
„Guten Tag“, sagte Mitzi mit einem Kopfnicken.
„Guten Tag“, sagte die Dame spitz, ohne auch nur den Anflug eines Lächelns zu zeigen.
Mitzi betrat die Büroräume. Sofort kam die Sekretärin auf sie zu.
„Hallo Fräulein Pichler, Herr Ludenhoff wartet schon auf Sie. Ich bringe Sie sofort zu ihm.“
„Danke“, sagte Mitzi und versuchte, sich ihre Verwunderung nicht anmerken zu lassen. War sich Max so sicher gewesen, dass sie kommen würde, dass er seine Sekretärin informiert hatte? Glaubte er etwa, dass keine Frau ihm widerstehen konnte? Mit aller Macht schob Mitzi ihre Gedanken beiseite. Sie hatte doch auf ihr Gefühl hören wollen und das befahl ihr, ihm wenigstens eine Chance zu geben. Insgeheim, das musste sie zugeben, hoffte sie natürlich, dass es eine Chance für sie beide war. Dass in Wahrheit alles anders war als es aussah. Dass Elisabeth gar nicht … oder dass Max Elisabeth nur zum Schein . . .
„Herr Ludenhoff, Fräulein Pichler ist da.“ Frau Maier öffnete die Tür zu Max‘ Büro.
„Danke, Frau Maier.“ Die Sekretärin zog sich diskret zurück und schloss die Tür. Mitzi stand wie angewurzelt, Max‘ Anblick brachte sie völlig aus dem Konzept. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Mann auf diese Weise attraktiv gefunden, hatte sie ein Mann so in seinen Bann gezogen. Natürlich hatte sie auch in Heiligendorf heftig mit Jungs geflirtet, aber das waren Kindereien gewesen im Vergleich zu den Gefühlen, die Max in ihr auslöste.
„Mitzi! Danke, dass Du gekommen bist.“ Max kam auf sie zu und nahm ihre Hände. „Es tut so gut, Dich zu sehen“, sagte er leise.
„Ja“, sagte Mitzi nur. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn einen vernünftigen Satz zu sagen. Sie sah seine Augen und drohte darin zu versinken. Sein Blick war leidend und voller Begehren.
„Mitzi, oh Mitzi!“, brachte er nur hervor und dann küsste er sie. Sanft und gefühlvoll wie schon am Morgen im Aufzug. Mitzi ließ es geschehen und genoss den Augenblick, der nie zu vergehen schien. Vergessen war Elisabeth, ihre glamouröse Erscheinung, an die Mitzi nie heranzureichen glaubte und alle gesellschaftlichen Unterschiede. Alles fühlte sich richtig an, Mitzi spürte ganz deutlich, dass Max der Mann war, zu dem sie gehörte.
Mit einem tiefen Blick in ihre Augen, löste sich Max von ihr.
„Ich werde Elisabeth verlassen.“
Mitzi nickte, als habe sie die bedeutungsvolle Nachricht gar nicht richtig verstanden. Noch immer war sie völlig eingenommen von ihren Gefühlen.
„Komm“, sagte Max. „setzen wir uns.“ Er führte sie zu den beiden Besucherstühlen, die vor seinem Schreibtisch standen. Er bot Mitzi den einen an und setzte sich selbst auf den anderen. Erneut nahm er ihre Hand.
„Es ist wie ein Wunder, dass ich Dich getroffen habe. Mein ganzes Leben habe ich auf Dich gewartet. Das weiß ich jetzt. Alles, was vorher war, waren Steine auf meinem Weg. Jetzt bin ich angekommen. Hier bei Dir.“
„Oh, Max. Du machst mich zur glücklichsten Frau der Welt.” Mitzi konnte selbst kaum glauben, was gerade geschah. Max meinte es ernst, das sah sie in seinen Augen.
“Aber wie werden die anderen reagieren? Deine Eltern und erst Deine Verlobte? Sie wird wohl kaum einverstanden sein mit Deiner Entscheidung.“
„Davon ist auszugehen“, sagte Max und lachte. „Aber dieses Mal bleibt ihr wohl nichts anderes übrig, als meinen Entschluss zu akzeptieren. Es war ohnehin nur eine Vernunftbeziehung zwischen uns, richtig verstanden haben wir uns nie.“
„Sie ist eine sehr attraktive und beeindruckende Frau.“
„In der Tat. Aber das allein reicht nicht.“
“Wann willst Du es ihr sagen?”
“Sobald ich sie sehe, natürlich. Seit sie diesen Preis gewonnen hat, gibt es keinen Abend mehr ohne gesellschaftliche Verpflichtungen. Ich bin gespannt, wohin sie mich heute schleppt.” Er lachte bitter.
“Aber eine Gesellschaft bietet doch kaum den richtigen Rahmen für ein solches Gespräch, meinst Du nicht?” Mitzi war skeptisch.
“Weißt Du, den richtigen Rahmen wird es nie geben. Elisabeth ist ständig unterwegs, liebt den Trubel, ich bin nur ganz selten mit ihr allein. Wenn ich darauf warten würde. . . ”
“Gut, mein Liebster”, sagte Mitzi und strich Max über die Wange. “Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Die Reitinger ist hinter mir her wie der Teufel hinter der armen Seele. Und ich will ihr keine Gelegenheit liefern, mich beim Chef zu verpfeifen.”
“Da tust Du gut dran. Denn der Chef kann ganz schön aufbrausend sein.” Max zwinkerte ihr zu und lachte. Dann gab er ihr zum Abschied einen langen Kuss.
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Grandhotel Herz, Folge 20; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.