So, jetzt konntet Ihr Euch schon ein bisschen angefreunden mit dem neuen Roman, dem Ort, an dem er spielt und den Personen. Heute geht’s weiter, mit Folge 2.
Es war ein milder und sonniger Vormittag. Der Frühling hatte sich nach zahllosen trüben und regnerischen Wochen endlich durchgekämpft. Auf dem Markt war der Teufel los, es schien, dass die Sonne ganz Heiligendorf aus den Häusern geholt hatte. Mitzi schlenderte ziellos zwischen den Ständen umher. Nicht, dass sie ein besonderes Ziel gehabt hätte, sie wollte bloß das schöne Wetter genießen und ein bisschen unter Leuten sein. Seit ihre Brüder ausgezogen waren und sie allein mit dem Vater lebte, fehlte ihr der Trubel einer großen Familie doch arg. Der Vater saß den ganzen Tag in seiner Werkstatt, kam nur zu den Mahlzeiten nach oben in die Wohnung und auch dann sprach er nicht viel. Wortkarg war er immer schon gewesen, aber früher war das nicht aufgefallen. Vier Kinder im Haus sorgten für einen ordentlichen Geräuschpegel. Mitzi fühlte sich ein wenig einsam und nutzte jede erdenkliche Gelegenheit, aus dem Haus zu kommen.
“Hallo Mitzi, schön Dich mal wieder zu sehen. Wie geht’s dem Vater?”
“Hallo Frau Schidlhuber, dem Vater geht’s gut. Er sitzt halt schon wieder in der Werkstatt. Hat viel zu tun.”
“Freut mich, dass die Geschäfte laufen. Sag ihm doch bitte, ich bring am Montag die Schuhe von meinem Martin. Ich weiß nicht, was der immer macht, aber die Absätze sind schon wieder ganz abgelaufen.”
“Natürlich, ich sag ihm viele Grüße.”
“Danke, Du bist ein gutes Kind. Auf Wiederschaun.”
“Wiederschaun, Frau Schidlhuber.”
Mitzi blieb stehen und sah der alten Dame hinterher. Sie war eine von den eingesessenen Heiligendorfern, so wie ihre eigene Familie auch. Obwohl die Schuhmacherwerkstatt nicht sonderlich viel abwarf und er in einer der großen Schuhfabriken in der Stadt wesentlich mehr hätte verdienen können, hatte der Vater nie erwogen, das kleine Dorf an der österreichisch-tschechischen Grenze zu verlassen. Nie wäre ihm das in den Sinn gekommen, er war verwurzelt hier und seine Frau war es auch gewesen. Dennoch war er Realist genug zu wissen, dass die junge Generation heutzutage die Welt sehen und ihre Erfahrungen anderswo machen muss. Keinem seiner Kinder hatte er Steine in den Weg gelegt. Alle drei Brüder Mitzis waren gleich nach der Matura ausgeflogen. Und auch sie drängte der Vater immer wieder, Heiligendorf hinter sich zu lassen und endlich das Medizinstudium zu beginnen, von dem sie immer geträumt hatte. “Du bist 20, mein Kind”, sagte er stets und seine dunklen Augen blitzten dabei auf. “Wenn Du nicht aufpasst, wirst Du die älteste Jungärztin der Welt.”
“Hi Mitzi!” Sie hörte ein knatterndes Mofa hinter sich. Toni!, durchfuhr es sie. Mitzi drehte sich um.
“Hallo Toni!”
“Und? Wie sieht’s aus mit uns beiden?”, fragte er unvermittelt.
“Was meinst Du?”
“In Rabenhofen ist heute Tanz in den Frühling. Ich dachte, wir beiden Hübschen gehen hin.”
“Oh, Toni. Ein ander Mal gerne, aber heute kommen die Jungs und ich hab noch so viel zu tun.”
“Wenn wir erst mal verheiratet sind, müssen sich die Männer in Deiner Familie auch allein versorgen. Du kannst ja nicht jedes Mal nach Hause rennen, wenn sie auftauchen.”
“Toni”, Mitzi hob die Stimme. “Wie oft soll ich es Dir noch sagen? Wir werden nicht heiraten. Nie und nimmer.”
Er wollte es nicht begreifen. Toni, den das ganze Dorf für einen netten, lieben Kerl hielt, hatte sich in den Kopf gesetzt, sie seien füreinander bestimmt. Anfangs hatte sie das auch geglaubt, immerhin war er der bestaussehendste junge Mann im Ort. Er war höflich und charmant gewesen, hatte sie eingeladen und immer eine kleine Überraschung parat gehabt. Bis vor ein paar Monaten war sie mit ihm auf Wolke sieben geschwebt. Er hatte sie abgeholt mit dem Moped, zum Schwimmen wollten sie gehen in der Thaya. Es gab ein lauschiges Plätzchen, wo sie sich oft trafen, doch an diesem Tag hatte Mitzi einfach keine Lust, ins Wasser zu gehen. Es war Mitte Oktober gewesen und der Fluss einfach nicht mehr warm genug. Zunächst hatte Toni versucht, sie zu überreden, erst sanft, dann bestimmter. Als er aber merkte, dass sie nicht umzustimmen war, war er regelrecht ausgerastet, hatte sie angebrüllt und beschimpft. Mitzi hatte Angst bekommen und war in die Sicherheit des Ortes zurückgerannt. Dort hatte er es nicht mehr gewagt, derart aus der Rolle zu fallen.
Seit diesem Nachmittag hatte Mitzi Abstand genommen zu Toni. Ein Mann, vor dem sie Angst haben musste, der latent gewalttätig und unberechenbar war, kam für sie nicht in Frage. Seine Entschuldigungen und sein Beteuern, so etwas käme nie wieder vor, ließen sie kalt. Wenn sie jetzt ehrlich zu sich selbst war, hatte sie innerlich damals schon Schluss gemacht. Erzählt hatte sie bisher niemandem davon, weder von ihrem Entschluss noch von dem Vorfall am Fluss.
Weiß der Himmel, was ihre Brüder mit Toni anstellen würden, wenn sie davon wüssten.
“Ach Mitzi, komm. Letztes Jahr waren wir doch auch dort und es war so schön.” Er versuchte, ihre Hand zu nehmen. Mitzi zog sie weg und fuhr sich durch die langen, braunen Haare.
“Toni! Zum allerletzten Mal. Ich werde nicht mit Dir zum Frühlingstanz gehen und ich werde Dich nicht heiraten. Hast Du das jetzt endlich verstanden?” Mitzi war so laut geworden, dass Passanten stehen geblieben waren. Peinlich berührt wandte sie sich ab, stieg auf ihr Fahrrad und fuhr davon. Tonis Blick entging ihr.
Hier geht’s zu Folge 3 von “Grandhotel Herz”.
Grandhotel Herz, Folge 2; ein Liebesroman alter Tradition, Kitsch und Herzschmerz inklusive – wie beim Groschenroman üblich.